Immer mit den Wellen - Carmens Brustkrebs Geschichte

Der Chiemsee begrüßt uns heute mit seinem rauen, wilden Gesicht. Ganz anders als auf den beliebten Postkarten, peitscht der nasskalte Wind die Wellen ans Ufer. Ein wenig erinnert er fast schon an die Heimat unserer Gesprächspartnerin Carmen Lopez, die spanische Atlantikküste.  

Völlig unbeeindruckt von den suboptimalen Bedingungen für unser Seeufer-Spaziergangs-Interview biegt Carmen um die Ecke. Sie kommt uns strahlend entgegen. Ohne ein Wort macht sie klar, dass sie nicht gewillt ist sich von Kleinigkeiten wie dem Wetter beeindrucken zu lassen. Carmen erzählt uns heute nicht wie sie den Krebs besiegt hat. Sie erzählt uns nicht, wie sie den Krebs überlebt hat. Mit solchen Kriegsmetaphern kann die dreifache Mutter nichts anfangen. Vielmehr zeigt sie uns, wie man das Leben wie eine Welle reitet. Je stärker der Sturm, desto größer die Welle. Und je mehr Du dagegen kämpfst, desto weniger Kraft wirst Du haben. 

Die Ruhe vor dem Sturm

Trotz der aufziehenden Regenfront beginnen wir das Interview mit einem Uferspaziergang. „Mein Tag beginnt früh, bevor der Rest des Hauses erwacht“, beginnt Carmen unser Gespräch. „Ich nutze diese stille Zeit für eine Art kurze Meditation. Es hilft mir, mich zu sammeln und mit positiver Energie in den Tag zu starten.“ Carmen erklärt, wie wichtig es ist, diese Momente der Ruhe zu finden, besonders als Mutter. „Bevor der Trubel beginnt, genieße ich die Ruhe in meinem Garten und lasse die Natur auf mich wirken.“ 

Carmen betont, wie ihr Morgenritual eines von vielen lebensverändernden Elementen nach ihrer Krebsdiagnose wurde. „Also man kann sagen, ich meditiere. Wenn das Wetter es zulässt, liebe ich es in meinen Garten rauszugehen und verbunden mit der Natur den Tag anzufangen. 20 Minuten nur für mich, das Zwitschern der Vögel und der Blick ins Grüne.“ Sie erzählt uns, wie wichtig es für sie mittlerweile ist, auf diese Weise ihre Batterien aufzuladen und den Tag in Ruhe zu beginnen, statt direkt in den Alltagsstress zu verfallen. 

Auch mal nehmen, statt geben

Während die Regentropfen immer dicker werden, erklärt uns Carmen, wie wichtig es gerade bei drei Kindern ist, Zeit für sich zu finden und sich zu fragen, was man selbst braucht: „Als Mama passiert es leicht, dass man sich verliert. Natürlich schaut man, dass die Kinder gut versorgt sind. Aber es ist auch wichtig, dass ich erst meine Batterien lade, damit ich etwas geben kann. Weil wenn ich leer bin, dann kann ich nichts geben.“ 

Wie essenziell das ist, musste Carmen auf die harte Tour lernen. 2015 erhält sie die Diagnose Brustkrebs und eigentlich hatte sie weder Zeit noch Platz in ihrem Leben dafür. „Ich war und bin verheiratet, Mama von drei Kindern und das kleinste stillte ich gerade ab. Ich plante im nächsten Monat meine Stelle als Spanisch-Lehrerin wieder anzutreten. Und dann kam die Diagnose wie ein Schlag ins Gesicht, mein erster Gedanke war, das geht jetzt nicht, ich habe dafür keine Zeit.“ 

Der Wendepunkt 

„Von einem auf den anderen Tag war ich gezwungen, mich um mich zu kümmern“, spricht Carmen offen über den Moment, der ihr Leben veränderte: „Es war mir in diesem Moment noch nicht bewusst, aber ich habe festgestellt, dass ich mich als Carmen und auch als Frau vergessen hatte. Ich war praktisch nur Mama oder Ehefrau oder Freundin. Dafür gab es viel Raum in meinem Leben. Aber dass ich mir gegönnt hätte, Sachen für mich allein zu machen oder so, das hat in meinem Leben überhaupt nicht stattgefunden.“ Sie reflektiert über die Herausforderungen, die diese Erkenntnis mit sich brachte, und wie sie begann, ihr Leben anders zu gestalten. 

Es geht für Carmen um die Frage: „Wie nähre ich mich (nicht nur durch die Ernährung), sondern in meinem Leben? Was mache ich? Was tue ich? Wen treffe ich? Was sage ich und was sage ich nicht, damit es mich nährt? Oder welche Entscheidungen treffe ich meinem Leben, die mich nähren? Und wenn ich richtig fett bin, voll genährt, dann kann ich für meine Kinder sorgen und dann kann ich schauen, dass ich sie auch nähre, aber nicht andersrum!“ 

 

Ihr ist aber auch bewusst, dass sie Glück im Unglück hatte: „Ich durfte mich voll auf meine Genesung konzentrieren. Das war sehr wertvoll. Es war ein Geschenk für mich, das ich angenommen hab. Ich hatte auch Freundinnen, die einfach vorbeigeschaut haben oder die was vorbeigebracht haben. Als ich auf Reha war, da durfte ich drei Wochen einfach weg sein. Das war nur möglich, weil da Freunde und Familie waren. Einige sind sogar extra aus Spanien angereist.“ Mit diesen Worten werden Wind und Regen noch einmal heftiger und wir gehen schnellen Schrittes zurück zur Anlegestelle und suchen unter einem Balkon Unterschlupf.

Offenheit als bewusst gewählter Weg

In unserem neuen Quartier erzählt uns Carmen, „ich habe immer offen über meine Krankheit gesprochen, aber ich habe auch gelernt, meine Grenzen zu setzen. Wenn ich nicht über meinen Zustand sprechen möchte, dann tue ich das auch nicht“. Sie beschreibt, wie wichtig es ist, das Bewusstsein für Brustkrebs zu schärfen und gleichzeitig auf sich selbst zu achten: „Es ist wichtig, offen darüber zu reden! Krebs ist eine Realität, die viele Menschen betrifft. Und das ist auch ein Grund, warum ich mit meiner Botschaft rausgehe. Weil ich andere Frauen ermutigen will, egal welche Entscheidung sie treffen, ob eine Ablation von einer oder beiden Brüsten, ob Wiederaufbau oder nicht. Dazu sage ich nichts, nein ich sage: Finde deinen Weg genauso, wie ich meinen gefunden hab und du bist richtig so, wie du bist.“

Carmen betont gleichzeitig, wie wichtig es ist auch Männer mit einzubeziehen, denn auch diese können an Brustkrebs erkranken und fühlen sich dann in der öffentlichen Wahrnehmung oft ausgeschlossen. Aber schlägt den Bogen noch weiter: „Das Leben bringt uns an unsere Grenzen und die sind die Chance, etwas zu verändern. Es ist egal ob es Krebs, Depressionen oder andere Erkrankungen sein. Es können auch Schicksalsschläge wie, Verlust von einem lieben Menschen oder Trennungen sein, vollkommen egal!“

Der Krebs als Chance für den Wandel 

„Ich sage gerne und oft, der Krebs kam in meinem Leben, um mir einen richtigen Arschtritt zu geben und mir verstehen zu geben: Ich bin die Hauptperson im Leben! Es geht um mich! Und erst, wenn ich mich gut um mich kümmere, dann kann ich mich auch um andere kümmern“, erklärt Carmen. Mit leuchtenden Augen fügt sie hinzu „Das Tanzen hat mir geholfen, mich wiederzufinden und zu heilen“. „Es war meine Therapie und meine Freude. Ich habe das Tanzen neu entdeckt und es wurde zu einer wichtigen Ausdrucksform für mich.“ Carmen teilt, wie das Tanzen ihr nicht nur emotional, sondern auch körperlich half, die Strapazen der Behandlung und die psychischen Lasten zu bewältigen. 

 

Ein neues Selbstverständnis 

Carmen spricht über die Transformation, die sie durchgemacht hat: „Der Krebs war ein Weckruf. Ich habe gelernt, dass ich mehr als nur eine Mutter, Lehrerin oder Freundin bin. Ich bin eine Frau mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen. Diese Erkenntnis hat mir geholfen, mein Leben neu zu gestalten und Entscheidungen zu treffen, die wirklich zu mir passen.“ Für sie als Künstlerin ist es wichtig ihre Geschichte zu erzählen, denn ihr Publikum erliegt oft einer Täuschung. „Die Leute, die mich jetzt auf der Bühne erleben, meinen, dass ich das immer gemacht habe. Sie meinen ich habe mich immer so bewegt und habe immer so gesungen. Aber die Wahrheit ist, dass ich das tue ich dank der Erkrankung. Durch die Erkrankung habe ich diese Künstlerin in mir entdeckt, habe ich angefangen wieder zu tanzen, habe ich verborgene Gaben von mir entdeckt, wie das Singen, das Modeln oder als Speakerin aufzutreten“, bei den letzten Worten fängt Carmen fast an auf der Bank zu tanzen und fährt dann doch fort: „Der Krebs hat mir Kraft gegeben. Und Mut, so richtige BAH, trau dich Carmen … denn es gibt nichts zu verlieren, weil ich meine, was hätte ich verlieren können, dass ich vielleicht bald sterbe? Und mit diesem Gedanken, morgen kann es vorbei sein oder bald, gibt es kein Morgen abzuwarten. Sondern es geht um das heute und jetzt. Und deswegen habe ich meine Mutmacher Geschichte in ein Konzert gepackt, um meine Geschichte zu erzählen.” 

Der Appell 

Nachdem der Wind den Regen nun waagrecht in unseren Unterstand peitscht, siedeln wir noch einmal in ein nahegelegenes Café um. Während Carmen ihren hohen Mantelkragen fast bis zur Nase hochzieht, hat sie noch eine Botschaft für uns: „Ich singe und tanze, um anderen Mut zu geben. Genauso wie ich meine verborgenen Gaben durch diese Erfahrungen finden konnte, kannst Du auch Deine finden. Du kannst eine neue Version von Dir finden, eine noch bessere. Das ist es, was ich Dir mitgeben will, dass du dich einfach mal auseinandersetzt. Dass du vielleicht diese Tür aufmachst und was wäre, wenn tatsächlich etwas Gutes dahinter für Dich geben könnte?“  

Und während wir unsere Finger bereits an einer Tasse heißem Ingwertee wärmen, fügt sie hinzu: „Auch ich musste erst mal akzeptieren, dass ich Krebs habe. Nachdem ich es akzeptiert hatte, habe ich die Entscheidung getroffen, das Beste draus zu machen. Und ich hatte das Gefühl, es wird ein Jahr, um neue Sachen zu lernen. Aber ich wusste wirklich überhaupt nicht, was ich Neues lernen sollte. Es war nur ein Gefühl und so habe ich mich auf den Weg gemacht und so ist diese ganze neue Carmen entstanden.“ 

Imagination als Hoffnungsschimmer und Belohnung 

Warm und trocken erzählt uns Carmen, dass gerade kurz nach der Diagnose Brustkrebs viele ihrer Gedanken um den Tod kreisten. Was passiert, wenn sie ihren Mann mit drei kleinen Kindern zurücklässt. In dieser Situation hat sie sich jeden Tag selbst gezwungen an etwas positives zu denken. Sie hat so lange künstlich Glücksgefühle bei sich ausgelöst, bis es zu einer Routine geworden ist. Carmen hat sich bildlich vorgestellt, wie sie sich wild tobend in die Wellen ihres geliebten Atlantiks wirft. Kreischend und tobend vor einem rotglühenden Sonnenuntergang. Für die Spanierin war das mehr als nur Imagination, es war Hoffnung und es war ein Ziel. „Ich habe mich da unbewusst programmiert, habe meinem System, meinem Körper gesagt, hey da will ich hin! Hey, das ist mein Wunsch! Und so habe ich mich jeden Tag gesehen und deswegen, gebe ich anderen Erkrankten das Gleiche an die Hand. Wenn mich jemand fragt, was er tun kann, um sich auf das Positive zu fokussieren, antworte ich immer: Frage Dich, was kann ich tun? Wo sehe ich mich glücklich und gesund? Wo siehst du dich da und was tust du da? Was riechst du da? Was fühlst du da? Mit wem bist du da?“.

 

Carmen glüht beinahe so stark wie der Sonnenuntergang über dem Atlantik und fängt bei diesem Thema weiter Feuer, „erlaube Dir jeden Tag genau das zu durchleben, erlaube Dir dahin zu reisen und das Wichtigste, erlaube Dir das zu fühlen. Und so sagen wir unserem Körper, hey, da will ich hin, das strebe ich an. Das hat mich gerettet am Anfang. Mich an meinem Meer in meiner Heimat zu sehen, weil ich natürlich einen Wunsch hatte. Da will ich irgendwann mal hin. Und genau diese Erfahrung will ich machen“. Carmen seufzt mit dem ganzen Körper, „und das habe ich dann gemacht. Zusammen meinem Mann und meinen Kindern. Als die ganze Therapie vorbei war bin ich einfach ganz wild und verrückt ins Meer gesprungen bei einem Sonnenuntergang“. 

Mit den Wellen 

Carmen deutet durch das regennasse Fenster auf die Kitesurfer, die die ungewöhnlich hohen Wellen im Chiemsee nutzen, „in meiner Heimat, also der spanischen Atlantikküste, woher ich komme …“ Ein wenig stolz fügt sie hinzu, „ich komme nicht vom Mittelmeer, sondern vom Atlantik“. Allein das Wort Atlantik lässt sie noch heller strahlen. „Also in meiner Heimat, da sind einfach viele wilde Wellen und ich hatte oft das Bild, dass ich einfach mit dem Wellen gehe. Also ich wollte mich nicht mehr gegen den Strom stellen. Wenn das Leben des anders für mich vorhat, dann gebe ich mich lieber den Wellen hin und spiele mit dem Wellen sowie die Kinder. Schmeiße mich hinein und schwimme mit. Genau wie dieser Kitesurfer, der nutzt die Wellen, er geht mit Wind und Wellen. Und andererseits gibt es ja auch den sprichwörtlichen Fluss des Lebens. Es hat keinen Sinn gegen ihn anzukämpfen, lass Dich einfach von den Wellen treiben.“ 

Carmen ist ganz beseelt davon, dass der Chiemsee uns heute die Chance für solche tollen Metaphern gibt. „Ich finde ich es so schön passend, dass der Chiemsee heute so wild ist und so viel Kraft hat. Genau die Kraft, die wir Frauen in uns haben, und die ich in den Frauen aktivieren möchte mit meinen Worten.“  

Danke Carmen, dass Du uns und allen Leserinnen mit Deinen Worten so viel Kraft gegeben hast. 

 

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